Antragsteller*in
Mainz
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Antragstext
Die Sozialdemokratie bekennt sich eindeutig zur Bedeutung der Sozialen Arbeit für die Verwirklichung ihrer gesellschaftlichen Ziele. Eine starke und gut aufgestellte Sozialarbeit ist aus unserer Überzeugung heraus unerlässlich auf dem Weg zu einer Gesellschaft der Gleichen und Gerechten. Daher setzen wir uns auch immer wieder für ihren Ausbau in den zahlreichen Tätigkeitsbereichen ein: in der Kinder- und Jugendhilfe, den aufsuchenden Hilfen, im Gesundheitssektor usw. Soziale Arbeit will Veränderungsprozesse auf individueller und gesellschaftlicher Ebene begleiten und unterstützen und ist daher von herausragender Bedeutung.
Die soziale Arbeit lebt vom Verhältnis zwischen Klient*innen und Sozialarbeiter*innen. Neben dem Handeln auf Interventions- und Präventionsebene ist ein Verhältnis, das auf Vertrauen basiert, daher unentbehrlich. Es ist daher naheliegend, dass der Gesetzgeber für sozialarbeitende Fachkräfte eine Schweigepflicht durch § 203 Strafgesetzbuch (StGB) vorsieht. Diese Schweigepflicht gilt jedoch nicht bei Vorladungen der Staatsanwaltschaft zur zeugenschaftlichen Vernehmung, polizeilichen Zeug*innenvorladungen, welche staatsanwaltschaftlich angeordnet wurden oder vor Gericht. In diesen Fällen müssen Sozialarbeiter*innen.
gegen ihre Klient*innen aussagen. Ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten wird dadurch erheblich erschwert oder gar unmöglich macht. Dieses Vertrauensverhältnis muss oftmals mühsam und durch langwierige wie ausdauernde Beziehungsarbeit erschlossen und gepflegt werden. Es kann nicht entstehen, wenn potentielle Klient*innen nicht darauf vertrauen können, dass Gesagtes nicht gegen sie verwendet werden wird. Ganzheitliche und langfristig unterstützende Angebote können nur umgesetzt werden, wenn Gespräche offen und geschützt geführt werden können.
Wir fordern daher die Einführung eines Zeugnisverweigerungsrechts für Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die in öffentlich-anerkannten Einrichtungen und Diensten tätig sind, und denen Tatsachen anvertraut sind, deren Geheimhaltung durch gesetzliche Vorschrift geboten ist. Hierzu soll § 53 der Strafprozessordnung (StPO) geändert werden. Ferner fordern wir die Aufnahme von Pflegeeltern (bzw. Pflegepersonen) in § 52 der Strafprozessordnung (StPO).
Begründung
Es ist der 17. Spieltag der zweiten Fußball-Bundesliga im Jahr 2022. Karlsruhe spielt gegen St. Pauli. Eine Fangruppierung zündet anlässlich ihres Geburtstags eine Pyro-Show. Es kommt zu Verletzungen durch den dichten Rauch. Die Polizei nimmt Ermittlungen auf. In diesem Rahmen wurden drei Mitarbeitende des Karlsruher Fanprojekts als Zeugen vorgeladen und werden somit gezwungen, gegen ihre Klient*innen auszusagen.¹ Aus dieser Situation entwickelt sich ein Bündnis für ein Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit, ein Rechtsstreit und eine Aufforderung zum politischen Handeln.
Nicht nur für die Arbeit in Fanprojekten, sondern in allen Arbeitsbereichen der Sozialen Arbeit – in der Jugendhilfe, in den Sozialen Diensten, in der Straffälligenhilfe oder z.B. in der Migrationsberatung – ist Vertrauen, die Grundvoraussetzung für den Erfolg sozialarbeiterischer Interventionen. Ohne das Vertrauen der Klient*innen in die Fachkräfte kann Soziale Arbeit ihre Wirkung nicht entfalten und können keine Erfolge erzielt werden. Das Fehlen eines Zeugnisverweigerungsrechts für sozialarbeitende Fachkräfte führt zu massiven Verunsicherungen auf beiden Seiten und zu einem mangelnden rechtlichen wie physischen Schutz für Fachkräfte (bspw. im Aufgabenfeld der Gewaltprävention).
Wenn Klient*innen befürchten müssen, dass im Fall der Fälle dennoch Ermittlungsbehörden bei den Fachkräften anklopfen und diese dann „auspacken“ müssen, kann kein Vertrauen geschaffen werden – insbesondere dann, wenn es sich um Klient*innen handelt, die den Fachkräften grundsätzlich mit Misstrauen begegnen.
Aus den dargelegten Gründen ist es nur folgerichtig, dass der Gesetzgeber für sozialarbeitende Fachkräfte eine Schweigepflicht nach § 203 Strafgesetzbuch (StGB) vorsieht. Diese Schweigepflicht gilt jedoch nicht bei Vorladungen der Staatsanwaltschaft zur zeugenschaftlichen Vernehmung, polizeilichen Zeugenvorladungen, welche staatsanwaltschaftlich angeordnet wurden oder vor Gericht.
In einer Antwort des Bundesministeriums für Justiz auf eine Kleine Anfrage der (damals noch) Fraktion DIE LINKE erkennt die Bundesregierung an, dass die Soziale Arbeit „von einem besonderen Vertrauensverhältnis zu den von [ihr] betreuten Personen geprägt ist“². Die Bundesregierung halte „die Einführung eines strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechts für diese Berufsgruppe“ allerdings für nicht geboten. Das Bundesverfassungsgericht habe in ständiger Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass das verfassungsrechtliche Gebot einer effektiven Strafverfolgung und das Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren von besonderer Bedeutung seien.³ Gleichwohl vertrete die Bundesregierung die Auffassung, dass „[d]ie Situation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter[n] von Fanprojekten und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern aus anderen Berufsfeldern […] nicht vergleichbar“ mit anderen Tätigkeiten sei, für die lt. § 53 der Strafprozessordnung (StPO) ein
Zeugnisverweigerungsrecht aus dem Grund vorgesehen ist, dass „[d]er Erfolg der Beratung […] entscheidend [davon abhänge], dass sich die beratenen Personen sicher sein können, dass die Informationen, die unter dem Siegel der Verschwiegenheit gegeben werden, nicht preisgegeben werden“. Auch sei die Existenz von Sozialarbeiter*innen durch den Mangel eines Zeugnisverweigerungsrechts nicht gefährdet. Und außerdem würde der Gesetzgeber ausufernd Gebrauch von.
Zeugnisverweigerungsrechten machen, würde er diese Berufsgruppe auch noch aufnehmen.
Diese Einschätzungen zeugen nicht nur von einer erheblichen Ignoranz und Dreistigkeit gegenüber der Lebensrealität von Sozialarbeiter*innen – sie sind, wie eingangs dargelegt, fachlich falsch und unbegründet. Insbesondere bei Arbeitsbereichen wie der Straffälligenhilfe, der Jugendgerichtshilfe, der Jugendsozialarbeit (bspw. bei der Betreuung von Jugendlichen, die mit dem Gesetz in Konflikt stehen oder Drogen konsumieren und handeln) oder der Betreuung von
Sexarbeitenden, ist ein Zeugnisverweigerungsrecht möglich und sinnvoll.
Ein Rechtsgutachten der Arbeiterwohlfahrt (AWO), das im Dezember 2023 veröffentlicht wurde, kommt allerdings zu gegenläufiger Einschätzung. In Bezug auf das angeführte Urteil des Bundesverfassungsgerichts hält der Gutachter fest: „Als Grund wurde unter anderem angegeben, dass das Recht der ratsuchenden Person auf Achtung ihrer Privatsphäre nicht verletzt sei, da Sozialarbeit keine Berufsausübung sei, für deren Gesamtbild höchstpersönliche, grundsätzlich keine Offenbarung duldende Vertrauensverhältnisse kennzeichnend seien“4, das Urteil sei zudem überholt – auch was das Fremd- wie Selbstverständnis der Sozialen Arbeit angeht.
Zwar wird in diesem Gutachten ebenfalls festgestellt, dass die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege als Einschränkung wirken kann, insgesamt kommt der Gutachter jedoch zum Ergebnis, dass das Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit rechtlich möglich wäre, da sich dies auf ein besonderes Vertrauensverhältnis gründet und die Entgegennahme geheimhaltungsbedürftiger Informationen zentraler Bestandteil der Arbeit von Sozialarbeitenden ist und die notwendige Aufklärung über das Zeugnisverweigerungsrecht Bestandteil einer staatlich anerkannten Qualifizierung sein können. Der Gutachter führt für verschiedene Teilgebiete der Sozialen Arbeit fachlich fundiert aus, in welchen Bereichen welche Formen des Zeugnisverweigerungsrechts Sinn ergäben und welche nicht – hieran kann sich grundsätzlich orientiert werden. Hier wird insb. auch einmal auf Pflegeeltern verwiesen, die leiblichen Eltern sinnfreierweise diesbezüglich rechtlich nicht gleichgestellt sind.
¹ Siehe u.a. https://www.deutschlandfunk.de/fussball-fanprojekte-zeugnisverweigerungsrecht-100.html; zuletzt abgerufen am 15.04.2024.
² Die Antwort auf die Kleine Anfrage (BT-Drs. 20/9918) ist online abrufbar unter: https://dip.bundestag.de/vorgang/zeugnisverweigerungsrecht-in-der-sozialen-arbeit/306532.
³ vgl. BVerfGE 33, 367, 383; 38, 312, 321; vgl. auch BVerfGE 129, 208, 260.
4 Das Rechtsgutachten ist online abrufbar unter: https://awo.org/fuer-ein- zeugnisverweigerungsrecht-der-sozialen-arbeit; zuletzt abgerufen am 15.04.2024.