Antragsteller*in

Jusos Rheinland-Pfalz

Zur Weiterleitung an

SPD-RLP Landesparteitag

Antragstext

Der Landesparteitag möge beschließen:

Wir bekennen uns zu einer sozial-gerechten Rechtsstaatlichkeit. Das heißt für uns auch, dass die Erfolgsaussichten juristischer Verfahren nicht vom Geldbeutel der Kläger*innen und Beklagten abhängen dürfen. Solange Vollzug und Qualität von Verteidigung und Anklage davon abhängen, ob und in welcher Güte sich Bürger*innen Rechtsbeistand leisten können, ist ein gerechtes Rechtssystem nicht möglich.

Zur Durchsetzung dieses Grundsatzes fordern wir daher:

  • die Einführung einer solidarischen Prozesskostenhilfe auch für Angelegenheiten des Strafrechts und für Verfassungsbeschwerden,
  • die Möglichkeit der Bestellung von Pflichtverteidiger*innen für Strafsachen, auch wenn keine sogenannte „notwendige Verteidigung“ im Sinne des § 140 StPO vorliegt, sofern die Bestellung einer Wahlverteidigung aufgrund der wirtschaftlichen Situation dem*der Beklagten nicht zugemutet werden kann und es dem Gericht angemessen erscheint,
  • die Entkriminalisierung von Armutsdelikten, wo sinnvoll und möglich – insbesondere § 265 a StGB und Delikte des BTMG.

Begründung:

Jede*r kennt vermutlich aus Filmen und Serien den Satz: „Sie haben das Recht, zu jeder Vernehmung einen Anwalt hinzuzuziehen. Wenn Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird Ihnen einer gestellt.“ So weit so gut, doch die bundesdeutsche Realität sieht anders aus als die Realität der US-amerikanischen Filme und Serien.

In Deutschland ist Beschuldigten nur in solchen Fällen von Amts wegen eine staatlich-finanzierte Pflichtverteidigung zu bestellen, wenn es sich um sogenannte „notwendige Verteidigungen“ handelt und der*die Beschuldigte noch über keine*n von ihm*ihr gewählte*n Verteidiger*in verfügt. Notwendige Verteidigung bezeichnet dabei eine Verfahrenslage, in der der Gesetzgeber davon ausgeht, dass der*die Beschuldigte sich nicht selbst verteidigen kann. Für die Pflichtverteidigung ist es in Deutschland dabei irrelevant, ob der*die Beschuldigte eine Verteidigung bezahlen kann oder nicht.

Solche Fälle der notwendigen Verteidigung liegen nach § 140 StPO jedoch nur in einer sehr begrenzten Anzahl von Situationen vor:

  • bei Hauptverhandlungen vor dem Landgericht oder Oberlandesgericht und somit allen Fällen von schwerer und schwerster Kriminalität,
  • beim Verdacht auf Verbrechen im Sinne von § 12 Abs. 1 StGB (rechtswidrige Taten, die mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht sind),
  • bei drohendem Berufsverbot,
  • bei Vollstreckung von Untersuchungshaft,
  • bei längerem Freiheitsentzug von mindestens 3 Monaten,
  • bei Unterbringung zur Gutachtenerstellung,
  • im Sicherungsverfahren,
  • bei Ausschluss der Wahlverteidigung,
  • sowie in der Nebenklage,
  • und wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung einer Verteidigung geboten erscheint, oder wenn ersichtlich ist, dass sich Beschuldigte nicht selbst verteidigen können.

In allen anderen Fällen sind die Beklagten auf eine kostenpflichtige Wahlverteidigung angewiesen, wenn sie sich nicht selbst verteidigen wollen oder können. Dies betrifft oftmals kleine Delikte, aber auch sogenannte Armutsdelikte wie Schwarzfahren und Drogendelikte.

Allein schon aufgrund des statistischen Phänomens wird sichtbar: Menschen, die aufgrund ihrer Armut keine Alternative zum kriminellen Handeln haben, haben auch keine Möglichkeit auf eine adäquate Verteidigung vor Gericht.

Denn auch die sogenannte Prozesskostenhilfe hilft hier nicht weiter. Einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe kann in Deutschland nur gelten machen, wenn es sich dabei um einen Zivilprozess handelt und

  • wenn man die Kosten nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann,
  • die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und
  • man nicht von dem Prozess absehen würde, wenn sie die Kosten selbst tragen müsste (fehlende Mutwilligkeit).

Ungeachtet dessen weist die Studienlage darauf hin, dass staatliche Unterstützungsleistungen umso seltener in Anspruch genommen werden, je geringer die finanziellen Möglichkeiten der Bürger*innen sind.

Zusammengenommen bedrohen diese Zusammenhänge die Chancengleichheit des Rechtssystems und schaden ihm und dem demokratischen Rechtsstaat so, da arme Menschen das Vertrauen in das Rechtssystem verlieren. Ein gerechtes Rechtssystem muss jedoch eine effektive Waffengleichheit aufweisen. Das heißt, dass jede*r von sich aus gleiche Chancen auf Erfolg oder Misserfolg vor Gericht haben muss, ungeachtet der sozialen oder ethnischen Herkunft, der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität oder der körperlichen und psychischen Gesundheit.

Zur Problemlösung fordern wir die Ausweitung der Prozesskostenhilfe als Vorleistung im Strafprozess. Im Fall einer Verurteilung wäre sie zurückzuzahlen. Außerdem die Bereitstellung von Pflichtverteidiger*innen in ausnahmslos allen Strafsachen. Darüber hinaus sollte geprüft werden, welche Armutsdelikte entkriminalisiert werden könnten (bspw. „Erschleichung von Leistungen“ nach § 265a StGB).