Antragsteller*in

N.N.

Zur Weiterleitung an

SPD RLP Landesparteitag

Antragstext

Das Versammlungsrecht und damit auch das
Recht auf freie Meinungsäußerung und öffentlichen Protest ist eines der
höchsten und elementarsten Güter unserer Demokratie.

Kritisch sehen wir es, wenn genau dieses
Grundrecht zum Objekt von „predictive policing“[1] werden
soll. Aktuell wird von dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, in
Kooperation mit der TU Kaiserslautern, der Hochschule der Polizei
Rheinland-Pfalz, diversen französischen Partnern und privaten Unternehmen, ein
Projekt unter dem Titel „Organized Pedestrian Movement in Public Spaces“, kurz
„OPMoPS“ durchgeführt.

Die Zielsetzung dieses Projekts ist wie
folgt veröffentlicht worden:

„Das Vorhaben erarbeitet eine digitale
Entscheidungshilfe, um Großveranstaltungen sicherer zu gestalten. Soziale Interaktionen
und gruppenspezifische Verhaltensweisen werden mit neuesten soziologischen
Modellen durch mathematische Simulationen abgebildet. Diese werden permanent
mit der realen Situation verglichen, die mittels aktueller Videodaten erhoben
wird. Eine dreidimensionale Visualisierungssoftware analysiert das Geschehen in
Echtzeit, errechnet Situationsprognosen und leitet Empfehlungen beispielsweise
zu Personaleinsatz, Routenführung und Notfallplanung ab. Rechtliche Aspekte
fließen von Beginn an in die Entscheidungsfindung ein und stellen die
Angemessenheit der Handlungsoptionen sicher.“ [2]

Die Motivation, Durchführung und
Zielsetzung dieser Studie sehen wir aus verschiedenen Gründen kritisch.

Auch wenn die Motivation des Projekts
zunächst einleuchtet, eine effizientere Ressourcenplanung der Polizei und eine
angemessene Reaktion auf veränderte Sicherheitslagen keinesfalls schlecht sind,
sollen hier eindeutig Freiheitsrechte zugunsten vermeintlich höherer Sicherheit
eingeschränkt werden.

Betrachtet man die dürftigen
Informationen, die sich zu dem Projekt finden lassen, so wird schnell klar,
dass es sich bei dem Projekt um eine weitere Aufrüstung der Polizei mit Mitteln
zur umfassenden Überwachung von Demonstrationen handelt.

Diese Aufrüstung geht einher mit einer
impliziten Ausweitung der Befugnisse der Polizei. Schon in der Vergangenheit
gab es häufig Diskussionen um das anlasslose Filmen von, bis dato friedlichen,
Demonstrationen durch die Polizei. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits
2009 entschieden, dass solche anlasslosen Videobeobachtungen unzulässig sind.
Ebenso ist bereits die Bereithaltung von Kameras für unzulässig erklärt worden,
solange keine strafbaren Handlungen begangen wurden, da sie
Einschüchterungswirkungen erzeugen können. Kameras schränken die
Demonstrationsfreiheit ein, da beispielsweise Teilnehmer*innen ihr
Demonstrationsrecht nicht wahrnehmen, wenn sie befürchten müssen, behördlich
registriert und verfolgt zu werden. Gefilmt werden dürfen Demos deshalb nur,
wenn konkrete Anhaltspunkte auf eine Gefährdung öffentlicher Sicherheit und
Ordnung hindeuten. [3]

Der Leitgedanke der Studie ist, auf Basis
umfassender Videoüberwachung die Entscheidung eben erst zu treffen, ob eine
solche Gefährdung vorliegt. Somit wird unweigerlich auch gefilmt, wenn keine
strafbaren Handlungen begangen werden und keine Gefährdung öffentlicher
Sicherheit besteht. Das widerspricht der Unschuldsvermutung und das Projekt
torpediert dadurch bereits in seiner grundlegenden Motivation die
Rechtsprechung des BVerfG. Wir Jusos finden jedoch eben diese Rechtsprechung
und die Urteile zur Stärkung der Demonstrationsfreiheit wichtig, da für uns in
diesem Fall gilt: Im Zweifel für die Freiheit.

Neben der bloßen Einschüchterungswirkung
auf Demo-Teilnehmer*innen, bedeutet die Einrichtung einer umfassenden
Videoüberwachung gesamter Demonstrationen auch eine erhebliche
Missbrauchsgefahr. Gerade in Zeiten, wo Umfragen eine nicht-demokratische
Partei, die sogenannte Alternative, in Teilen Deutschlands als stärkste Kraft
sehen ist es fahrlässig, solche Überwachungsinfrastrukturen auszubauen, die im
Zweifelsfall von faschistischen Regierungen gegen unliebsame Proteste und
Meinungskundgebungen eingesetzt werden können. Wir wollen nicht, dass unter dem
Deckmantel der vermeintlichen Erhöhung der Sicherheit ein weiteres Schlupfloch
geschaffen wird, Grundrechte, wie das der freien Meinungsäußerung und das der
Demonstrationsfreiheit einzuschränken. Wir sehen die Gefahr, dass die Studie
dazu führt, Demonstrationen durch Überwachung und Lenkung in ihrer Freiheit
einzuschränken.

Generell sehen wir die Polizei nicht als
neutrale Akteurin im Demogeschehen. Deshalb darf sie, sofern
Videoaufzeichnungen angefertigt werden, nicht den alleinigen Zugriff auf diese
Daten haben. In diesem Fall soll das Material auch zur Verfügung stehen, um
unabhängig einsatztaktisches Fehlverhalten und Polizeigewalt untersuchen und
verfolgen zu können. Ebenso müssen die Empfehlungen und Ergebnisse der Software
zumindest insofern publik gemacht werden, dass nachvollzogen werden kann, wann
sich die Polizei entschieden hat, die Empfehlungen der Software zu befolgen
oder zu ignorieren.

Die Software, welche entwickelt werden
soll, wird auf einer bestimmten Art von Algorithmen basieren. Basis dieser
Algorithmen sind meist Rational-Choice-Theorien[4]. Diese
sind in der Wissenschaft umstritten und zeigen bei anderen
Ermittlungsprogrammen, die ebenfalls dem “predictive policing” zuzuordnen sind
und aktuell bereits in der Praxis eingesetzt werden erschreckend geringe
Trefferraten und Genauigkeit. Solche Algorithmen sehen wir deshalb sehr
kritisch.

Gerade im Kontext des polizeilichen
Arbeitens sind aus angeblichen Sicherheitsgründen die Implementierungen und
Parameter dieser Algorithmen nicht bekannt, da man sonst durch Nachbildung oder
direkte Nutzung eben jener Algorithmen polizeiliches Handeln selbst ebenfalls
vorhersagen könnte. Das bedeutet aber auch, dass im Nachhinein nicht sauber
begründet werden kann, warum bestimmte Entscheidungen wie getroffen wurden, da
der Entscheidungsapparat nicht auf komplexer menschlicher Abwägung und
Erfahrung basiert, die Verantwortliche im Zweifel zur Begründung transparent
machen müssen, sondern Entscheidungen durch eine fest programmierte Blackbox
getroffen werden. Für die Bürger*innen ist so beispielsweise nicht
nachvollziehbar, ob diesen Algorithmen rassistische, juristisch nicht tragbare,
die Unschuldsvermutung missachtende und gegenüber politische/aktivistischen
Gruppierungen vorurteilsbehaftete Parameter zu Grunde liegen.
Fehlentscheidungen können nur schwerlich analysiert und mit Konsequenzen
geahndet werden.

Für uns ist klar: Technik ist fehlbar!
Algorithmen können individuelle, situationsangepasste, menschliche
Entscheidungen und Bewertungen nicht ersetzen. Die Parameter der Software
werden nur einen Bruchteil dessen abbilden können, was Menschen in komplexen
Situationen in ihre Entscheidungen einfließen lassen. Einmal mehr bei dem
hochsensiblen polizeilichen Arbeiten, welches oft Extremsituationen ausgesetzt
ist, sowie Humanität und Verstand erfordert. Genau aber an dieser Fähigkeit
hapert es bei Maschinen und künstlicher Intelligenz.

Ebenso sind natürlich auch menschliche
Entscheidungen und Handlungen selbst fehlerbehaftet. Jedoch wirkt sich auch
dieser Aspekt hier drastischer aus, da eine absichtliche oder unabsichtliche
Manipulation der Software und ihrer Parameter durch deren Intransparenz in der
Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar ist und somit ungünstige und falsche
Entscheidungen der Software angerechnet werden und keine Konsequenzen für eventuell
unprofessionell oder gar böswillig handelnde Polizist*innen haben. Vor dem
Hintergrund des Bekanntseins und Bekanntwerdens zunehmender
rechtsextremistischer Gesinnung von Polizeien und Behörden ist das in unseren
Augen eine große Gefahr.

Insgesamt ist die Arbeit dieses Projekts
sehr undurchsichtig und es ist nicht klar welche konkreten Studien und
Untersuchungen als Basis zu diesem Projekt dienen.

Einzelne Studien werden aktuell in
Kooperation mit diversen privaten Dienstleistern durchgeführt. In der offiziellen
Beschreibung wird erklärt, dass die Erkenntnis auch später im wirtschaftlichen
Bereich genutzt werden sollen. Hier ist kritisch zu sehen, welche kommerziellen
Gründe bestehen, sich an diesem Forschungsprojekt, gerade weil es sich um so
ein sensibles und zu schützendes Thema wie das Versammlungsrecht handelt, zu
beteiligen. Außerdem ist fraglich, ob private Dienstleister überhaupt den
Datenschutz gewährleisten können. Im Rahmen der Studie werden sehr viele
persönliche Angaben/Daten gesammelt wie u.a. auch Videomaterial. Das sichere
Speichern von solch sensiblen Daten ist sehr teuer und lohnt sich meist für
private Dienstleister nicht. Eine Offenlegung der Datenschutzbemühungen ist
bislang nicht erfolgt.

Die kleine Stadt Kandel, welche seit über
einem Jahr von rechten Demonstrationen aufgesucht wird, ist jüngst zum
Forschungsobjekt dieses Projekts geworden.[5]
Student*innen versuchten Teilnehmer*innen der rechten Demonstration, sowie
Teilnehmer*innen der linken Demonstration im Verlauf dieser Demonstrationen
mittels Interviews zu befragen. Dieses Vorhaben war weder mit der
Demonstrationsleitung abgesprochen, noch erwünscht. Auch auf Nachfrage wurde
keine Transparenz über Zweck und Ziel dieser Befragungen geschaffen. Auffällig
ist das Auftreten der Interviewer*innen, welches immer kurz vor und nach
polizeilich ausgelösten Stresssituationen, erfolgt. Offen bleibt die Frage, ob
es hier einen Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Strategien der
Behörden (Deeskalation/Repression) bei verschiedenen Demos und der Durchführung
der Studie gibt. Vorstellbar wäre, dass künstlich „Stressszenarien“
erzeugt wurden, um Reaktionen der Menschenmenge zu untersuchen. Eine Aufklärung
ist bislang nicht erfolgt. Diese fordern wir dringend, von Seiten der Polizei,
der TU Kaiserslautern und dem Innenministerium des Landes Rheinland-Pfalz.

Abschließend fassen wir zusammen und
fordern:

  • Den Abbruch der Studie
  • Transparenz und Aufklärung über bisher geleistete
    Forschung (Methoden, Ziele, Datenschutz)
  • Transparenz und Aufklärung über die Zusammenhänge
    zwischen dem Forschungsprojekt und bisher stattgefundenen Demonstrationen,
    v.a. in Kandel, insbesondere in Hinblick auf die dabei verfolgten
    Einsatzstrategien der Polizei sowie Auflagen und Agieren zuständiger
    Behörden
  • Öffentliche Finanzierung von Studien, die auf
    Totalüberwachung von Demonstrationen abzielen ist auch zukünftig zu
    unterbinden, da dies eine Unverhältnismäßigkeit und Freiheitseinschränkung
    darstellt
  • Falls das Projekt weitergeführt werden sollte
    darf dies keinesfalls Auswirkungen auf Planung einer Einsatztaktik oder
    Behördenvorgaben für Versammlungen haben.
  • Falls zukünftige Demonstrationen weiterhin zum
    Forschungsobjekt dieses Projekts werden sollten, muss die Demoleitung die
    Forschungsgruppe bitten dürfen, die Demo zu verlassen. Handeln sie zuwider
    kann von einer groben Störung der Ordnung der Demonstration ausgegangen
    werden und die Polizei muss diese im Zweifelsfall entfernen – auch im
    Falle eines vermeintlichen Interessenkonflikts (da die Forschung der
    Polizei dienlich ist).
  • Statt einer anlasslosen Videoüberwachung von
    Demonstrationen und deren Teilnehmer*innen durch die Polizei fordern wir,
    dass ausschließlich gefilmt wird, wenn tatsächlich Gefahr für die
    öffentliche Sicherheit besteht.
  • Werden auf einer Demonstration Videoaufnahmen
    durch die Polizei oder Behörden angefertigt, so dürfen diese nicht nur
    einseitig der eventuellen Strafverfolgung gegenüber Demonstrant*innen und
    damit der Beweisführung im Sinne der Polizei dienen, sondern müssen auch
    für die Verfolgung von Polizeigewalt und Willkür Anwält*innen
  •  und
    unabhängigen Kontrollparteien zugänglich gemacht werden.
  • Findet eine Software zur Entscheidungshilfe für
    Polizeieinsätze auf Demos Anwendung, dann muss dieser Einsatz transparent
    gemacht werden und eventuelle Vorhersagen und Analyseergebnisse der
    Software veröffentlicht werden, damit über Fehlentscheidungen der Software
    und Abweichung in der tatsächlichen Ausführung des Polizeieinsatzes
    klarheit besteht.
  • Die im Rahmen der Studie, zu entwickelnde
    Software, darf nicht dazu führen Verantwortung für polizeitaktische
    Entscheidungen in der Öffentlichkeit einer Software zuzuschreiben.

[1]
https://www.bpb.de/dialog/netzdebatte/238995/predictive-policing-dem-verbrechen-der-zukunft-auf-der-spur?type=galerie&show=image&i=238997

[2] https://www.sifo.de/de/bewilligte-projekte-aus-der-bekanntmachung-zukuenftige-sicherheit-in-urbanen-raeumen-2271.html

[3]
https://netzpolitik.org/2014/urteil-zu-den-polizeilichen-spaehfahrzeugen-bedokw-anlassloses-ausfahren-der-kamera-verletzt-grundrechte/

[4] „rational choice“-Theorie oder
Theorie der rationalen Wahl besagt, dass der Mensch individuell, auf Basis von
rationalen und vernünftigen Entscheidungen handelt

[5]
https://www.rheinpfalz.de/lokal/landau/artikel/kandeler-demos-sind-forschungsobjekt/?tx_rhpnews_shownews[reduced]=true