Antragsteller*in

Jusos Rheinland-Pfalz

Zur Weiterleitung an

Landesparteitag, Bundesparteitag, Juso-Bundeskongress

Antragstext

Die Landeskonferenz der Jusos Rheinland-Pfalz möge beschließen:

Der Sozialstaat gehört zu den größten Errungenschaften der Moderne. Er steht für das Versprechen, dass Menschen in Zeiten finanzieller Not und bei Wechselfällen des Lebens durch die Gesellschaft materiell abgesichert werden. Das Ideal des Sozialstaats ist aber nicht nur die soziale Absicherung der Bürger*innen, sondern auch die Bemühung um soziale Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft. Diese Art des gesellschaftlich getragenen sozialen Sicherungssystems wurde im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die hohen sozialen Verwerfungen durch die industrielle Revolution und der damit einhergehenden Verelendung der arbeitenden Klasse eingeführt. Sozialdemokrat*innen und Gewerkschafter*innen haben im Schulterschluss – trotz staatlicher Repressionen und Illegalität – für die materielle Verbesserung der Menschen gekämpft. Der Sozialstaat, wie wir ihn heute kennen, wurde damit maßgeblich durch den Einsatz der verschiedenen Akteur*innen der Arbeiter*innenbewegung geprägt.

Eine zentrale Rolle in diesem Sozialstaatsgedanken nimmt dabei das über ein Jahrhundert alte Sozialversicherungssystem ein, das sich in folgende Bereiche gliedert:

  • Die Arbeitslosenversicherung (AV) mit 2,4%
    • Die gesetzliche Krankenversicherung (KV) mit 14,6% + 1,3% durchschnittlichem Zusatzbeitrag
    • Die gesetzliche Pflegeversicherung (PV) mit 3,05%
    • Die gesetzliche Rentenversicherung (RV) mit 18,6%
    • Die gesetzliche Unfallversicherung (UV), deren Beiträge allerdings nur von Arbeitgeber*innen entrichtet werden.

Gesamthöhe der Beitragssätze: 39,95%

Das Grundprinzip der Sozialversicherungen ist relativ einfach und basiert auf einem Umlageprinzip. Arbeitnehmer*innen zahlen in die Sozialversicherungen ein, leisten damit ihren Anteil zur Solidargemeinschaft und Erwerben durch Beitragszahlungen Ansprüche auf Versicherungsleistungen. Die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme gründet sich dabei auf zwei Säulen. Ein Großteil der Erwerbstätigen entrichtet die Hälfte der Abgaben auf das eigene Einkommen, während Arbeitgeber*innen für die andere Hälfte aufkommen – alles in allem also eine paritätische Finanzierung. Zusätzlich bezuschusst der Bund die sozialen Sicherungssysteme bei Bedarf aus dem allgemeinen Steueraufkommen. Im Vor-Corona-Jahr 2019 betrug der Bundeszuschuss zu den Sozialversicherungen ca. 120 Milliarden Euro. Bis 2021 stieg dieser Wert aufgrund höherer Steuerzuschüsse zur Finanzierung der pandemiebedingten Leistungen um weitere 14 Milliarden Euro auf insgesamt 134 Milliarden Euro. Dem hohen Bundeszuschuss liegt der politische Wille zugrunde, die Beitragssätze von Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen nicht auf über 40% ansteigen zu lassen.

Ein Sozialversicherungssystem für alle!

Allerdings zahlen längst nicht alle Erwerbstätigen durch eigene Abgaben in die Sozialversicherungen ein. Ausgenommen von der Sozialversicherungspflicht sind beispielsweise Selbstständige, Beamt*innen, Soldat*innen, hauptamtliche Amtsträger*innen, Abgeordnete, Minister*innen und Staatssekretär*innen. Im Jahr 2019 waren das ca. 11% aller Erwerbstätigen und damit fast 4 Millionen Beschäftigte. Sie sorgen damit entweder privat für das Alter vor oder sind in privaten Krankenkassen versichert. 4 Millionen Beschäftigte bedeuten in diesem Zusammenhang 4 Millionen fehlende Beitragszahlende und damit eine hohe Summe finanzieller Mittel, die einer möglichen Konsolidierung des Sozialversicherungssystems nicht zur Verfügung stehen.

Wenn in politischen Diskursen über den Sozialstaat gesprochen wird, so war das in den letzten Jahrzehnten vor allem von einem neoliberalen Paradigma geprägt. Nicht selten wurden dabei Rufe laut, die die Finanzierung und die Strukturen der sozialen Sicherungssysteme als ineffizient und wettbewerbsfeindlich betitelten. Zu hohe Sozialabgaben würden die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Deutschland gefährden, Wachstum behindern und damit nicht nur die Produktivität verringern, sondern damit im Umkehrschluss die Erwirtschaftung der zu vergebenden Leistungen verhindern. Kurzum: sie sind eine Belastung für die Wirtschaft. Was sich auf den ersten Blick nachvollziehbar liest, in in Wahrheit nicht mehr als eine Märchenerzählung von neoliberaler und konservativer Seite, die durch Kürzungen im Sozialstaat nichts anderes als die Profitmaximierung ihres Wähler*innenklientels auf Kosten weiter Teile der Bevölkerung erreichen will. Wir Jusos sind in unserer Positionierung klar: Beitragssätze zur Sozialversicherung sind keine Belastung! Ihnen stehen Leistungsversprechen gegenüber, die im Falle von Krankheit, Alter oder Erwerbslosigkeit den erworbenen Lebensstandard nicht gefährden sollen. Gerade während der Corona-Pandemie hat sich die Notwendigkeit und die Funktionsfähigkeit des Sozialstaats gezeigt: durch das Kurzarbeiter*innengeld beispielsweise konnten Millionen von Arbeitsplätzen gesichert werden, die aufgrund der Pandemie vorübergehend nicht in vollem Umfang ausgefüllt werden konnten.

Mehr für die, die wenig haben!

Allerdings wissen wir um die Notwendigkeit, das Sozialversicherungssystem für die Zukunft nachhaltig und gerecht zu reformieren. Für uns ist dabei aber entscheidend: das darf, kann und wird nicht zu Lasten geringerer und mittlerer Einkommen geschehen, die durch höhere Beitragssätze noch mehr von ihrem Einkommen abgeben müssten, um so die Stabilität des Systems zu gewährleisten. Wir vertreten eine gegenteilige Auffassung. Seit Jahren kämpfen und werben wir in Wahlkämpfen dafür diese Einkommensschichten spürbar zu entlasten. Fälschlicherweise beziehen wir uns dabei aber in weiten Teilen immer nur auf Steuersenkungen, die diese Menschen faktisch nur wenig oder gar nicht betreffen. Stattdessen sind es die Sozialversicherungsbeiträge, die einen großen Anteil der Abgaben darstellen. Der Leitsatz “Starke Schultern müssen auch mehr tragen” darf sich nicht nur in der Progression der Steuersätze ausdrücken, sondern muss sich auch in der Finanzierung der Sozialversicherungen widerspiegeln.

Dem steht unter anderem die Beitragsbemessungsgrenze im Weg. Sie besagt, dass ein Erwerbseinkommen nur bis zu einem bestimmten Satz für die Beitragsabgabe herangezogen werden darf. Im Jahr 2022 liegt diese Grenze für die gesetzliche Rentenversicherung und für die gesetzliche Arbeitslosenversicherung bei 7050€ in den alten Bundesländern und bei 6750€ in den neuen Bundesländern. Für die gesetzliche Krankenversicherung wurde der Wert auf 4837,50€ beziffert. Wir halten die Beitragsbemessungsgrenze für zutiefst unsolidarisch und werden uns für ihre Abschaffung einsetzen. Gleichzeitig darf das aber nicht zu exorbitanten Leistungsansprüchen jener führen, die mit dem Wegfall der Beitragsbemessungsgrenze höhere Beiträge zahlen. Ähnlich wie das schweizerische Modell könnte hier die Einführung einer Höchstrente zur Stabilisierung der Finanzierung beitragen. Menschen, die in diesen Einkommensklassen ihren Erwerb bestreiten, werden sich nur im Einzelfall große Sorgen um ihre materielle Sicherheit im Alter machen müssen.

Ein funktionierender und solidarischer Sozialstaat zeichnet sich dadurch aus, dass er als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gesehen und geschultert wird. Deshalb finden wir es falsch, dass nur Erwerbseinkommen zur Beitragsabgabe herangezogen werden – gerade im Hinblick auf die Tatsache, dass die starke Vermögensungleichheit in unserem Land nicht durch unterschiedliche Leistung der Erwerbsarbeit, sondern durch arbeitsferne Kapitalerträge und Erbschaften existiert und weiter zunimmt. Um den sozialen Zusammenhalt in unserem Land zu gewährleisten und um dem Versprechen der sozialen Marktwirtschaft, dass “alle Menschen am wirtschaftlichen Erfolg des Staates teilhaben” gerecht zu werden, setzen wir uns für dafür ein, dass auch auf andere Einkommen wie Kapitalerträge und Erbschaften Beiträge zur Sozialversicherung abgeführt werden.

Mit diesen Einnahmequellen kann die Gesellschaft zukünftig auch zielgerichtet auf die Herausforderungen der Zeit antworten. Die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft und der damit einhergehende Wegfall tausender Arbeitsplätze macht es erforderlich, umzulernen und neue Berufsfelder für sich zu entdecken. Atypische Beschäftigungsverhältnisse, der Wegfall linearer Erwerbsbiografien und die permanente Änderung von Qualifikationsanforderungen – das sind zusätzliche Herausforderungen, mit denen wir uns konfrontiert sehen müssen. Wir sind uns bewusst, dass das vor allem viele Menschen betreffen wird, die bereits seit Jahren berufstätig sind und daher auf ein auskömmliches Einkommen angewiesen sind. Eine Arbeitsversicherung, die die bisherige Arbeitslosenversicherung ablösen kann, soll neben Erwerbsausfällen auch als Einkommensausgleich für Um-, Weiter- und Fortbildung sowie einer temporären Erwerbsauszeit dienen. Hierbei orientieren wir uns an der bestehenden Beschlusslage des SPD-Bundesparteitages, der diese Forderung auch in das Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021 aufgenommen hat.

Die Stabilisierung der Sozialversicherungen – in diesem Fall ganz explizit die der gesetzlichen Rentenversicherung – ist für uns kein Generationenkonflikt. Wir wollen, dass unsere Großeltern und alle anderen Menschen im Alter eine auskömmliche Rente beziehen, mit der sie in Würde den verdienten Ruhestand genießen können. Von liberaler und konservativer Seite wird dieser Konflikt oft angefeuert, um die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Problem abzulenken: dem Problem der Verteilungsgerechtigkeit. Wir sehen seit Jahrzehnten, wie die Produktivität des Landes und der wirtschaftliche Erfolg nicht bei allen Menschen ankommt, geschweige denn sich spürbar in der Ausgestaltung der Sozialversicherungen ausdrücken würde. Im Gegenteil: das Geld sammelt sich bei denen, die sowieso keine Beiträge zahlen. Geld also, das – wie bereits oben erwähnt – der Finanzierung des Systems fehlt! Das drückt sich in der Realität im Geldbeutel von mehreren Millionen Menschen aus. In der großen Mehrheit sind das vor allem Frauen*, die aufgrund des Gender Pay Gaps im Schnitt noch immer weniger verdienen als Männer* und durch die eigene Erwerbsbiografie – meistens als Minijob oder Teilzeit – weniger in das gesetzliche Rentensystem einzahlen, wodurch sie im Endeffekt auch geringere Leistungsansprüche erwerben. Neue Einnahmequellen der Sozialversicherungen können diese ungerechten Lücken schließen!

Ganz ohne Strukturreformen beseitigen wir aber nicht alle Ungerechtigkeiten im bestehenden System. Gerade im Hinblick auf das System der gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen, das nach wie vor die Zwei-Klassen-Medizin in unserem Land manifestiert, ließen sich solche Reformen durchführen. Beginnend mit der Anzahl an Krankenkassen: alleine die Zahl der gesetzlichen Krankenkassen beziffert sich auf 103 Krankenkassen, die in einem merkwürdigen Wettbewerbsdenken versuchen sich gegenseitig Versicherte durch Werbung abzugewinnen. Fast 200 Millionen Euro betrugen die Gesamtkosten für Werbung der gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2018. Eine Summe, die schon vom Bundesrechnungshof angemahnt wurde. Wir sagen deutlich: das Gesundheitssystem ist kein Wettbewerb. Es soll Menschen gesund machen und sie nicht als Kund*innen verstehen. Das Geld, das durch eine Fusionierung von Krankenkassen hin zu einer einheitlichen Bürger*innenversicherung eingespart werden würde, könnte somit in die Erweiterung des Leistungsangebots der Krankenversicherung fließen. Die Forderung nach einer Bürger*innenversicherung ist für uns Jungsozialist*innen und Sozialdemokrat*innen keine Neue. Allerdings gehört sie zu den Forderungen, die in den letzten Koalitionsverhandlungen relativ früh vom Tisch fallen gelassen worden sind.

Um also aus all den genannten Argumenten die Finanzierung der Sozialversicherungen zu gewährleisten, kleinere und mittlere Einkommen zu entlasten und das Leistungsangebot womöglich sogar noch auszubauen, fordern wir:

  • das Einbeziehen aller Erwerbstätigen in das gesetzliche Sozialversicherungssystem!
    • die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze!
    • die Einführung einer auskömmlichen Mindestrente und die Einführung einer Höchstrente nach schweizerischem Vorbild!
    • das Heranziehen weiterer Einkommensquellen (Kapitalerträge, Erbschaften, Schenkungen) zur Finanzierung der Sozialversicherungen!
    • den Ausbau der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung!
    • die Einführung einer Arbeitsversicherung, die die Arbeitslosenversicherung ersetzen soll, um neben Erwerbsausfällen auch Neuausbildung sowie Um- und Weiterbildung zu ermöglichen – als rote Linie bei kommenden Koalitionsverhandlungen!
    • die Einführung einer einheitlichen Bürger*innenversicherung als Ersatz für gesetzliche und private Krankenversicherungen – als rote Linie bei kommenden Koalitionsverhandlungen!

Am Ende ist uns aber bewusst, dass unsere sozialen Sicherungssysteme nicht perfekt und ausgereift sind. Noch immer ist es so, dass Menschen seit Jahren durchs Raster fallen. Geschuldet ist das einer undurchsichtigen Bürokratie, die Betroffene überfordert sowie fehlender bedarfsorientierter Hilfe. In der Konsequenz entstehen Frustration, die in Politikverdrossenheit mündet und im schlimmsten Fall zu Wohnungslosigkeit führt. Fehlendes Vertrauen in unseren Sozialstaat, schlechte Erfahrungen mit dem bestehenden Sozialsystem oder die bloße Angst vor materieller Armut sind Nährböden für Verschwörungserzählungen, rechtsextremes Gedankengut und Gewalt. Wer die sozialen Sicherungssysteme auf lange Sicht stärkt, stärkt nachhaltig die Demokratie.

Armut ist Verfassungsbruch!

Da wir in diesem Antrag zwar einen Schwerpunkt auf die zukünftige Ausgestaltung und Finanzierung der Sozialversicherungen legen, möchten wir uns auch zu anderen sozialpolitischen Entwicklungen äußern. Armut ist nicht naturgegeben, Armut ist menschengemacht. Das mag sich im ersten Moment trivial lesen, ist aber für den Gestaltungsanspruch enorm wichtig. Wir können Armut bekämpfen und das Leben derjenigen, die in der Armutsfalle gefangen sind oder sich in prekären Situationen befinden verbessern, wenn wir es denn wollen. Und wir Jungsozialist*innen wollen das! Im Artikel 20 (1) des Grundgesetzes heißt es: “Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.” Der Kampf gegen Armut und für einen sozialen – und damit materiellen – Ausgleich hat nicht weniger als einen Verfassungsrang. Es ist also die unbestreitbare Aufgabe des Staates und damit der gesamten Gesellschaft, Armut zu beheben und Armutsrisiken abzuschaffen. Diesem Auftrag wurden die vergangenen Bundesregierungen – auch unter SPD-Beteiligungen – alles andere als gerecht. Auch wenn wir froh sind, dass wir in der Breite der Partei und in der Breite der Gesellschaft das Hartz-System überwinden wollen, muss diese Willensbekundung mit effektiven Maßnahmen unterfüttert werden. Ein bloßer Namenswechsel von Hartz-IV oder Arbeitslosengeld II zu Bürger*innengeld ist uns zu wenig. Im Zuge der Koalitionsverhandlungen zur Ampel-Regierung konnten wir erfreulicherweise einige Dinge festhalten – dass aber nach wie vor auf Mitwirkungspflichten und damit im weiteren Sinne auf Sanktionen bestanden wird, kritisieren wir aufs Schärfste. Ein solidarischer Staat darf das Existenzminimum seiner Bürger*innen nicht kürzen! Hinzu kommen aktuelle Regelsätze, die nicht für ein Leben in Würde ausreichen. In Anbetracht der anhaltenden Krisen und den daraus resultierenden Preissteigerungen auf Verbrauchsgüter, die unmittelbar das ohnehin schon geringe Einkommen von Leistungsempfänger*innen weiter strapazieren, fordern wir höhere Regelsätze. Gerecht ist, wenn die, deren Vermögen während der Corona-Pandemie um ein Vielfaches gestiegen sind, für diese Finanzierung aufkommen!

Daher fordern wir nach wie vor:

  • Die Abschaffung aller Sanktionen im geplanten Bürger*innengeld!
    • Höhere materielle Leistungen, die eine wirkliche Teilhabe am soziokulturellen Leben ermöglichen!